Außergewöhnliche Menschen im Porträt: Mein Onkel Achim [hat Trisomie 21 / Welt Down Syndrom Tag]

Montag, März 21, 2016

Trisomie 21


Der lebensfrohste Mensch, den ich kenne ist mein Onkel Achim. Er hat eine ganz zurückgezogene, aber unglaublich ehrliche Lebensfreude die sofort ansteckt. Heute zum Welt Down Sydrom Tag möchte ich euch gerne mein Leben mit meinem Onkel Achim näher bringen.

Meinen Onkel kenne ich bereits mein gesamtes Leben lang. Schließlich ist er auch der ältere Bruder meiner Mutter. Weitere Geschwister haben die beiden nicht. Geboren wurde Achim vor 60 Jahren im wunderschönen Berlin. Ich darf das so sagen, denn ich bin ebenfalls dort - wenn auch 31 Jahre später - geboren. Er ist in einer Zeit aufgewachsen, in der es viele Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung gab. Meine Großeltern sowie meine Mutter mussten darunter ebenfalls leiden. Noch heute erzählt meine Mutter mit belegter Stimme wie ihr in der Grundschule die Gmynasialempfehlung aberkannt wurde, nachdem ihr Klassenlehrer ihren Bruder kennengelernt hat. Genetisch müsse diese Behinderung doch sein, das wahr damals der gängige Grundtenor. Meine Mutter hat dann trotzdem Maschienbau studiert. Und mein Onkel beweist heute jedem wie unglaublich viel Intelligenz er besitzt - ganz besonders soziale Intelligenz.

Ab wann genau meine Familie sich im Netzwerk für Menschen mit geistiger Behinderung engagierte kann ich nicht sagen. Damals war ich wohl noch nicht auf der Welt oder zumindest so jung, dass ich mich an eine Welt ohne dieses Netzwerk nicht erinnern kann. Als Kleinkind bin ich mit Begeisterung mit meinem Onkel zum Schwimmen und in seine Turngruppe gegangen. Diese war nämlich nicht nur Menschen mit geistiger Behinderung vorbehalten, sondern offen für alle Menschen. Für mich ist es ganz alltäglich mit Menschen mit verschiedenen Behinderungsgraden zu interagieren. Dabei habe ich bereits sehr früh etwas ganz entscheidendes gelernt: Wir sind als Menschen alle gleich und gleichzeitig als Individuen alle individuell.

Meine ersten Kindheitserinnerungen an meinen Onkeln sind eng mit denen meiner Großeltern verbunden. Früher lebte mein Onkel noch bei seinen Eltern und er hatte die allercoolsten Sachen. Die besten Videokassetten, alle Alf-Hörspiele, die besten Puzzle und Malhefte und jede Menge Bastelperlen. Wir (meine Schwetser und ich) haben bei jedem Besuch stundenlang in seinem Zimmer gesessen und zusammen Hörspiele gehört und gebastelt oder Videos angesehen. Später ist mein Onkel Achim dann in eine Wohnstätte gezogen. Dort lebt er heute noch in einem Einzelzimmer mit Bad, gemeinsamen Wohnzimmer und Küche sowie vielen weiteren Bewohnern und Betreuern. Die Besuche dort sind immer ein Highlight. So viel Freude über einen Besuch habe ich sonst noch nirgendwo erlebt. Natürlich wird man alle drei Meter ausgefragt und jeder plaudert über neuste Errungenschaften und Erlebnisse. Zu den Feiertagen gibt es Kaffee und Kuchen-Treffen, Geburtstage werden ausgiebig im Partyraum gefeiert und jede Jahreszeit hat ihr eigenes Hoffest.

Leider haben nicht alle Bewohner das Glück das mein Onkel Achim genießt. Seine Familie kümmert sich sehr um ihn und akzeptiert ihn als vollwertiges, wichtiges Mitglied dieser Familie. Regelmäßig unternehmen wir etwas gemeinsam. Viele seiner Mitbewohner haben keine Familie, die sie liebt und unterstützt - oder es ist keine jüngere Generation mehr vorhanden. Sie zehren sehr vom Zusammenleben in der kunterbunten Wohngemeinschaft und dem Engagemant der Betreuer und ehrenamtlichen Helfer.

Letztes Jahr habe ich einen Antrag bei Gericht gestellt um stellvertretender Vormund für meinen Onkel Achim zu werden. Nachdem er zugestimmt hat wurde mir dieses Recht gerichtlich erteilt. Seitdem lerne ich was es wirklich heißt sich um einen anderen Menschen zu sorgen und ihm dennoch genug Freiräume zu lassen. Ich bewundere meine Mutter, die diese Aufgabe kurz vor dem Tod meiner Oma vor 10 Jahren übernommen hat, sehr.  Ich nehme diese Aufgabe sehr gerne wahr, auch wenn sie mitunter wahnsinnig kompliziert sein kann. Gerade der ganze Papierkram und der bürokratische Ablauf sind nicht immer leicht zu verstehen.

Ich bin dankbar wie sehr sich die Gesellschaft gewandelt hat. Menschen mit besonderen Bedürfnissen sind mittlerweile fest in der Gesellschaft integriert. Als mein Onkel Achim jung war gab es keine Förderung, jetzt im Alter überrascht er uns immer wieder. Er hat ein engeschränktes Sprachvermögen, was die Kommunikation mitunter erheblich erschwert. Doch wir kennen uns so gut, dass wir eine ganz besondere Art der Verständigung entwickelt haben. In den letzten 10 Jahren, in denen er regelmäßig zur Logopädie geht, hat sich sein Wortschatz mindestens verdreifacht. Manchmal bildet er sogar ganze Sätze. Die nonverbale Kommunikation hat er von klein auf perfektioniert. Sein Missfallen drückt er zum Beispiel durch Sturheit und eine ausgeprägte Spontan-Langsamkeit aus, die uns gelegentlich an den Rand der Verzweiflung bringt.

Aber jetzt habe ich so viel über mein Leben mit ihm gesprochen und habe noch gar nicht viel von ihm als Person erzählt. 

Mein Onkel Achim ist 60 Jahre alt, Ur-Berliner, Dandy, Künstler, Tierfreund und Lebemensch. Zu seinen Hobbies zählen Fotografie, Tanzen und Malerei. Er isst gerne, vor allem Süßes. Er ist ein absoluter Fashionfan und verlässt nur selten das Haus ohne Krawatte. Auch sonst mag er es gerne klassisch. Hemden gehören zu seiner Lieblingsuniform genauso wie Westen und Strickjacken. Accessoires liebt er besonders. Er hat eine ganze Kollektion von Hüten - die Krawatten erwähnte ich ja bereits - und seine ständigen Begleiter sind eine große goldene Uhr, ein extrabreiter Goldring und eine Kette mit einem Rennwagen-Anhänger. Seine Lieblingsfarbe ist Rot, weshalb er sehr viel in dieser Farbe besitzt. Er liebt Tiere und könnte ihnen den ganzen Tag beim spielen zusehen. Dies trifft auch auf exotische Tiere zu, doch seine absoluten Lieblinge sind neben Delfinen (mit denen er sogar schon geschwommen ist) Pferde. Zwei Tiere, denen man ja nachsagt sie seinen ganz besonders einfühlsam. Vielleicht haben sie deshalb so eine magische Wirkung auf ihn. Über Kinder freut sich Achim auch sehr. Meine Schwester bekommt im April ihr erstes Kind und mein Onkel Achim ist ganz aus dem Häuschen. Babyies sind ja auch wahnsinnig süß und faszinierend. 

Er arbeitet in einer Werkstatt und in seiner Freizeit liebt er Musik und Sport. Letzteres jedoch eher als Beobachter. Für jede sportliche Betätigung kann er sich mühelos begeistern. Besonders gerne geht er zum Basketball und Volleyball. Dort gibt es die perfekte Mischung aus Sport, Musik und Stimmung sowie zusätzlich noch Maskottchen und Tänzer. Musik liebt er in jeder Form. Ob das Tanzbein schwingen beim Schlager, Luftgitarre spielen zu Rock oder mit Faszination einem klassischen Orchester folgen. Wo Achim ist, ist auch immer Musik.

Zu Hause ist er mit seinem Mitbewohner Dirk übrigens der Pausenclowm vom Dienst. Die beiden hecken ständig neuen Schabernack aus. Humor ist auf jeden Fall eine seiner größten Charaktereigenschaften. Er lacht mindestens genauso gerne über sich selbst wie über andere Missgeschicke. Passend dazu ist sein Lieblingskomiker natürlich Charlie Chaplin. Eine weitere außerordentliche Eigenschaft von ihm ist die Freude. Ich habe noch nie einen anderen Menschen kennengelernt, der sich mit solcher Begeisterung und Energie an Dingen erfreuen kann. Dabei handelt es sich sowohl um die großen Erlebnisse des Lebens wie um die ganz kleinen Momente.

Ohne ihn wäre mein Leben ein ganzes Stück weniger fröhlich - das wusste ich schon immer. Ich bin so dankbar, dass es ihn gibt. Lieber Achim, ich hab dich lieb!

Das könnte dir auch gefallen

4 Kommentare

  1. Ich habe selten etwas Berührenderes gelesen.Zum Lachen und Weinen. Lachen musste ich wegen der "Spontan-Verlangsamung" Ich kenne das so gut von meinen Schülern mit Trisomie 21 😉 Man liest so viel Liebe für deinen Onkel aus deinen Zeilen. Ich wünsche euch noch einen langen und freudenreichen gemeinsamen Weg.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Ursula,

      vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Jetzt bin ich wieder total emotional geworden und die Tränchen fließen. Oh Gott, manchmal ist das auch schlimm. ;) Vielen Dank für deine Worte, sie bedeuten mir wirklich viel. Achim ist wirklich ein Schatz und bereichert mein Leben ungemein. Es macht so Spaß sich mit so vielschichtigen Menschen zu beschäftigen.

      Die Spontanlangsamkeit scheint wohl eine bewährte Allzweckwaffe zu sein. ;) Ich möchte aber behaupten, mein Onkel hat sie perfektioniert. Manchmal kann er den Schalk dabei nicht verstecken. Da sieht man ein kleines Teufelchen aufsteigen, welches sich gerade prächtig amüsiert. Im Nachhinein ist das ein wahnsinniger Spaß, in dem Moment alles andere. ;)

      Ganz, ganz liebe Grüße,
      Bibi

      Löschen
  2. Was für ein toller Beitrag! So voller Liebe und Gefühl. Wir danken, nach dem anfänglichen Schock, jeden Tag dem lieben Gott (oder dem Zufall, oder wer auch immer dafür verantwortlich ist) für unseren Trisomisten. Er ist ein wundervolles Kind, erst 19 Monate aber jetzt schon mit der Fähigkeit alle um seine winzigen Finger zu wickeln.
    Ich wünsche euch von Herzen alles Gute!
    Liebe Grüße
    Simona

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebe Simona,

      vielen lieben Dank für deine Worte. Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Das ist ja das besondere an Menschen mit Trisomie21, dass sie so fröhliche Menschen sind. Immer Herzensgut und mit einer Offenheit, von der man sich eine Scheibe abschneiden sollte. Ich wünsche euch mit eurem Mäuschen alles gute und viel Spaß auf dem spannenden Lebensweg!

      Liebe Grüße,
      Bibi

      Löschen

Instagram @happyandthecity

Happy & the City Magazin Winter 2015/16

Subscribe